Kultur
Intensive Sache
Ein Intensivpfleger hakt nach
Zu viele Patient:innen und zu wenige Fachkräfte ergibt ein Problem, das sich erst langsam anbahnt und mit der Zeit an Deutlichkeit und Brisanz gewinnt. Die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte auf der einen Seite, das Wohl der Patient:innen auf der anderen Seite. Über allem stehen politische und profitbringende Entscheidungen. Ricardo Lange ist Intensivpfleger, er kümmert sich wie viele seiner Kolleg:innen, um die Menschen, wenn diese das gerade nicht oder nicht mehr selbst tun können. Überwachung der Vitalfunktionen, Medikamentengabe, wenn nötig Reanimation - das sind nur wenige Punkte, die zu seinem Aufgabenbereich gehören. Kurz um, er sorgt dafür, dass die ihm zugeteilten Patient:innen am Leben bleiben. Im Laufe der Jahre sind viele Kolleg:innen von Ricardo Lange aus unterschiedlichen Gründen aus dem Berufsleben ausgeschieden – zum Teil können sie ihren Beruf aus körperlichen Gründen nicht bis zur Rente ausüben, andere haben wegen der Arbeitsbedingungen die Reißleine gezogen. Das bedeutet viel mehr Arbeit für Ricardo Lange und seine Kolleg:innen, die noch in Krankenhäusern oder anderen Pflegeeinrichtungen tätig sind.
Dazu kommen unter anderem der Schichtdienst, Überstunden und viel Stress. Über Social Media hat Ricardo Lange Missstände in der Pflege offen kommuniziert. Bei Twitter verfolgen fast 54.000 Menschen seine Tweets. Es folgen unter anderem eine Kolumne im Tagesspiegel, mehrere Auftritte im Fernsehen und viele Gespräche mit Politiker:innen. Am 20. Januar ist schließlich sein Buch „Intensiv - Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ im dtv Verlag erschienen.
Ricardo Lange ist Intensivpfleger und Autor. Bekannt wurde er durch seine Aktivitäten auf seinen Social-Media-Plattformen. Dort äußert er sich u.a. zu Fragen rund um die Pflege oder anderen gesellschaftlichen Themen. Seitdem ist er in verschiedenen TV-Sendungen zu Gast, spricht mit Expert:innen und Politiker:innen. Auf Einladung von Jens Spahn war er 2021 auf der Bundespressekonferenz und hat von seinem Berufsalltag erzählt.
Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf
Ein Buch zwischen persönlichen und beruflichen Eindrücken. Zwischen Emotionen, Abwägungen, offenen Fragen, Frust und Lösungsmöglichkeiten. „Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ vereint das alles und doch irgendwie auch mehr als das. Ricardo Lange nimmt Leser:innen mit in die Nachtschicht, er lässt sie teilhaben an seinen Gefühlen und Gedanken. Er zeigt, wie verletzlich die vermeintlich harte Schale von Menschen aus dem medizinischen Bereich sein kann. Dafür, dass diese harte Schale oft nach außen dringt, sind unter anderem Stress und Belastungsdruck des Pflegepersonals verantwortlich, „dass sie [red. Anm. manche Menschen aus dem Pflegepersonal] jede Empathie verloren haben und einfach nur noch funktionieren“ (S.36). Das beginnt zum Beispiel bei dem Klingeln von Patient:innen, die Hilfe dabei benötigen, die Toilette aufzusuchen bzw. nach einer Bettpfanne fragen. Und dann die Antwort bekommen, dass sie in die Hose machen sollen, da sie ja eh eine Windel trügen. Oder, dass Menschen, die gerade einen Angehörigen verloren haben und sich von diesem verabschieden, schnell das Bett „freimachen“ müssten. Laut Ricardo Lange geschieht das nicht aus „Boshaftigkeit“, sondern aus Selbstschutz und Zeitdruck. Doch er mahnt neben den Belastungen, die dem Pflegepersonal ihren Alltag schwer machen zu Menschlichkeit: „Wir sollten versuchen, uns so zu verhalten, wie wir selbst in dieser Situation behandelt werden wollten“ (S.36).
Im Alltag ist das nicht ganz leicht unterzubringen, da mehr Patient:innen von immer weniger Pflegekräften betreut werden und die Pflegeleistung gar nicht mehr so erbracht werden kann, wie es einmal in der Ausbildung gelehrt wurde. Das fängt beim Waschen der Haare an und hört bei der Mobilisierung der Patient:innen noch lange nicht auf.
Ricardo Lange lässt hinter die persönliche, aber eben auch die berufliche Fassade blicken. Er nimmt Leser:innen mit beim routinierten Aufziehen der Medikamente, wenn ihm der eigene Kopf einen Streich spielt und er sich plötzlich fragt, ob er die Medikamente denn auch korrekt dosiert hat. Er vergleicht diese Situation mit einer Alltäglichen, der PIN-Eingabe am Bankschalter – die Zahlen sind eigentlich bekannt, aber manchmal wirkt der Kopf wie leergefegt. Nur, dass bei Ricardo Lange auf der Intensivstation keine Fehlermeldung angezeigt wird, wenn er etwas falsch gemacht hat. Es geht um Leben und Tod.
Leser:innen erfahren Hintergründe zu den Gesprächen von Ricardo Lange mit verschiedenen Politiker:innen. Außerdem lässt Lange auch Eindrücke von Außen zu. So berichtet ein Freund und ehemaliger Kollege aus der Situation des Pflegepersonals in Dänemark. Soviel vor weg: aus deutscher Sicht betrachtet, unterscheidet sich der Arbeitsalltag zwischen Pflegekräften in Deutschland und denen in Dänemark enorm. Aber kritische Äußerungen in Richtung Politik an der jeweiligen Situation gibt es auf beiden Seiten.
Empfehlung
Das Buch „Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – ein Notruf“ bewegt sich zwischen dem Klinikalltag, Missständen, Teilen des persönlichen Werdegangs, der Corona-Pandemie und möglichen Lösungsansätzen, wie man wertschätzender miteinander umgehen kann. Auf knapp 190 Seiten schwanken die Leser:innen zwischen Unglauben, Fassungslosigkeit und Mitgefühl. In die verschiedenen Kapitel sind echte Statements und Nachrichten eingeflossen, die Ricardo Lange auf seinen Social-Media-Kanälen gepostet hat. Lange beschreibt seine Ansichten schnörkellos, ohne zu verklausulieren oder künstlich aufzubauschen. Medizinische Fachbegriffe, die im Buch auftauchen, werden erklärt, sodass Laien einen Mehrwert daraus ziehen und ebenso auch Menschen mit medizinischem Verständnis mitgenommen werden.
Als Leserin habe ich einige wenige Übergänge innerhalb der Unterkapitel nicht verstanden, hier und da wäre im Detail eine andere Strukturierung sicherlich passender gewesen, doch dies tut dem Lesegefühl keinen Abbruch. Ich persönlich würde das Buch weiterempfehlen, da die eigene Sichtweise durch die realen Schilderungen geschärft und erweitert wird. Eine solche Innensicht und Schilderungen, wie es auf einigen Intensivstationen gerade abläuft und warum es einen Pflegenotstand gibt, haben mich bewegt. Der Blick nach links und rechts, wie z.B. (Intensiv-)Stationen in anderen Ländern arbeiten, ist eine wahre Bereicherung. Auch wenn einige Schilderungen hart klingen und damit ihren Ruf und Appell an die Politik und an unsere Gesellschaft nicht verfehlen, schafft Ricardo Lange es, auch die positiven Seiten seines Berufs hervorzuheben und versucht damit auch den Menschen eine mögliche Angst vor Krankenhäusern zu nehmen - „Trotz aller Missstände und Mängel, sind es Orte, wo Menschen geholfen wird“ (S.184).
Das Buch „Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – ein Notruf“ von Ricardo Lange ist am 20. Januar 2022 im dtv Verlag erschienen und kostet 16 Euro.