Politik
Wir müssten sie feiern und nicht beleidigen
Ein Essay
Ziviler Ungehorsam kann mehr als nur Aufsehen erregen, er funktioniert. Die Medien hingegen missachten gerade ihre Rolle.
Klimakleber, so haben die deutschen Medien die Demonstrierenden der Letzten Generation getauft. Mit ihren Aktionen machten sie in den vergangenen Monaten zivilen Ungehorsam zum heiß diskutierten Thema. Protestaktionen von klimaaktivistischen Gruppen, wie der Letzten Generation, werden in den Medien stark thematisiert.
Dabei ist die mediale Debatte um die Klimaaktivist:innen emotionalisiert und negativ geframt. Eine kritische Berichterstattung ist wichtig, doch wenn über Aktivist:innen kritisch berichtet wird, so muss auch über politische (Fehl-)Entscheidungen kritisch berichtet werden. Eine Krise, die alle betrifft – die kleineren Verursacher:innen stärker als die großen Verursacher:innen – muss medial in ihrem Ausmaß thematisiert werden. Medien vergessen hierbei häufig ihre Rolle als diejenigen, die Meinungen schaffen. Medien können durch Framing und Berichterstattung beeinflussen über welches „Fehlverhalten“ sich mehr empört wird: Das Verhalten der Klimaaktivist:innen oder das Verhalten der verantwortlichen Politiker:innen.
Framing
Framing meint einen Prozess, bei dem (un-)bewusst bestimmte, einzelne Aspekte eines Themas betont werden, während andere Aspekte vernachlässigt werden. Dieser Prozess führt zu einer Einflussnahme auf die Meinungsbildung anderer.
Was ist überhaupt ziviler Ungehorsam?
Jürgen Habermas definierte zivilen Ungehorsam als einen „moralisch begründeten Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“
Ziviler Ungehorsam bezieht sich also auf einen Regelverstoß, der bewusst gegen ein Gesetz, eine Verpflichtung oder eine Maßnahme des Staates als Protest gesetzt wird. Boykott, Blockaden, Protest-Camps, Anketten oder Steuerverweigerung sind einige von vielen Formen des zivilen Ungehorsams. Sie alle fordern eine Veränderung von Gesetzen oder Einhaltung von Gesetzen oder auch neue Gesetze, d.h. eine Transformation des bestehenden politischen Systems. Im Vordergrund des zivilen Ungehorsams steht die Gewaltfreiheit, wobei sich über diesen Aspekt häufig gestritten wird: Bezieht sich Gewaltfreiheit nur auf die Unversehrtheit von Menschen oder auch auf die Sachbeschädigung?
Aktivist:innen, die zivilen Ungehorsam ausüben, berufen sich vor Gericht häufig auf den Paragraf 34 im Strafgesetzbuch.
§ 34 Rechtfertigender Notstand
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Aktivist:innen sehen durch die Klimakrise und das fehlende richtige politische Handeln ihre Freiheit, ihr Leben und das der folgenden Generationen in Gefahr. Es sind verzweifelte Menschen, die das Gefühl haben, dass sehr viele Krisen aufeinanderprallen und nicht genügend Maßnahmen ergriffen werden. Häufig wird vergessen, dass die zentrale Motivation der Aktivist:innen nicht das Empören der zivilen Bevölkerung ist. Kaum ein Mensch klebt sich freiwillig und aus Spaß auf einer Straße fest. Für sie steht die Dringlichkeit des richtigen Handelns, um die Klimakrise nicht noch weiter zu befeuern, im Vordergrund. Durch Protestaktionen, wie Straßenblockaden oder das Bewerfen von Kunstwerken mit Farbe, versuchen die Aktivist:innen auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und fordern von der Politik das Einhalten der Klimaabkommen. Diese Forderungen zeigen, dass die Aktivist:innen die Regierung ernst nehmen und respektieren. Auch der Verfassungsschutz-Präsident, Thomas Haldenwang betonte, dass diese Gruppierung sich nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet, da sie die Regierenden letztendlich nur zum Handeln auffordern.
Ein Blick in die Vergangenheit: Es hat doch schon mal funktioniert
Ziviler Ungehorsam hat eine lange Protest-Geschichte. Häufig fallen die Namen, Mahatma Gandhi, Rosa Parks oder Nelson Mandela, im Zusammenhang mit zivilem Ungehorsam. Durch verschiedene Protestaktionen haben diese Persönlichkeiten versucht, auf einen Missstand in der Gesellschaft aufmerksam zu machen und eine Änderung der Gesetze zu erzielen. Auch die Errungenschaft des Frauenwahlrechts in Großbritannien lässt sich auf zivilen Ungehorsam zurückverfolgen.
Ein Beispiel für erfolgreichen zivilen Ungehorsam ist der sogenannte „Sip-In“ in der Julius‘ Bar in New York City in den Vereinigten Staaten im Jahr 1966. In der Zeit war es homosexuellen Menschen verboten, in jegliche Bars, Restaurants oder Clubs zu gehen. Nach der State Liquor Authority durften nur Menschen, die sich „ordnungsgemäß verhalten“, bedient werden. Intime Begegnungen und Verhalten zwischen zwei Menschen mit dem gleichen Geschlecht galten als „nicht ordnungsgemäß“, weshalb ihnen die Bedienung häufig verweigert und sie herausgeworfen wurden. Bars, in denen Schwule ihren Abend verbrachten, riskierten ihren „liquor license“ zu verlieren oder wurden von dem New Yorker Police Departement (NYPD) geschlossen. Auch Schilder mit den Worten „If you’re gay, please stay away“ wurden vor Bars platziert.
Drei Männer, Dick Leitsch, Craig Rodwell und John Timmons, waren Mitglieder der Mattachine Society, der ersten Homosexuellen-Organisation der Vereinigten Staaten. Im Sinne des zivilen Ungehorsams besuchten sie diverse Bars in Manhattan, zeigten ihre Homosexualität öffentlich und weigerten sich zu gehen. Ihr Ziel war, das diskriminierende Gesetz offenzulegen und die State Liquor Authority zu ändern. In der ersten Bar wurde ihnen der Eingang bereits verboten. In den zwei weiteren Bars kam es, nachdem sie dem Bartender erzählten, dass sie schwul sind, zu Diskussionen mit dem Manager und letztendlich zu kostenlosen Getränken für die drei Aktivisten. Die Julius‘ Bar war die letzte Bar des Abends. Leitsch, Rodwell und Timmons wurden bedient. Die Aktion der drei wurde zum sogenannten „Sip-In“ bekannt, einer der ersten organisierten Aktionen zivilen Ungehorsams von Homosexuellen. Der „Sip-In“ wurde in der New York Times und in der Village Voice veröffentlicht. Die State Liquor Authority stritt den Vorwurf des diskriminierenden Gesetzes ab, da die Bedienung entscheiden müsste, wen sie bedienen möchte. Letztendlich aber nahm die Anzahl der Polizei-Angriffe auf Schwulen-Bars ab und mehr und mehr Bars öffneten ihre Türen auch für homosexuelle Menschen, somit gewannen sie einen safe-space für die Abende. Historiker:innen vermuten, dass die Stonewall-Riots im Jahr 1969 vielleicht ohne die Errungenschaften des „Sip-In“ nie stattgefunden hätten.
Wichtig ist zu nennen, dass es neben friedlichen Formen des zivilen Ungehorsams in der Geschichte auch immer mal wieder zu gewalttätigen Ausbrüchen und Konflikten kam. Straßenblockaden und das Ankleben an Gebäuden gehören dennoch zu den friedlichen Formen des Protests. Aktuelle Aktionen wie die der Letzten Generation empören heutzutage viele Menschen und werden stark kritisiert. Trotzdem ist es von Bedeutung, die Wirksamkeit und Errungenschaften von zivilem Ungehorsam zu thematisieren. Man möchte sich kaum vorstellen, wo wir heute als Gesellschaft ohne Protest und zivilen Ungehorsam gegen das politische System in der Vergangenheit stehen würden.
Was die Klimabewegung heutzutage hervorstechen lässt, ist der Rückenwind des Bundesverfassungsgerichts. In der Vergangenheit hatte bisher keine andere Protestbewegung diesen Rückenwind des Grundgesetzes und ihrer Legislative. Im April 2021 veröffentlichte das Gericht einen Beschluss, der den Gesetzgeber zu Nachbesserungen beim Klimaschutz verpflichtete. Es verurteilte die Regierung und die Parteien, da diese die Klimaziele nicht einhalten würden und somit den folgenden Generationen die Freiheit raubten. Mit genau diesem Urteil und Argument gehen junge Klimaaktivist:innen nun auf die Straße und demonstrieren. Doch werden sie, ausgerechnet durch den Rechtsstaat, mit einer strengen Härte zurückgestoßen.
Die mediale Bühne
In vielen Schlagzeilen und Teasern werden Klimaaktivist:innen negativ geschmäht. Schlagwörter wie „härtere Strafen“, „blockieren“, „Regierung besorgt“, „eindringen“, „radikal und umstritten“ oder „scharfe Kritik“ lassen sich sehr häufig im Zusammenhang mit Klimaaktivist:innen in den Medien finden.
Politiker:innen, die sich zu den Aktionen kritisch äußern, werden zitiert, gefeiert und bekommen mediale Aufmerksamkeit. Dass diese sich negativ äußern, ist nicht verwunderlich, denn ihre Politik und Entscheidungen werden durch die Aktionen angegriffen und kritisiert. Medien haben jedoch die Aufgabe, diese Zitate nicht nur abzudrucken, sondern auch in einem Kontext einzubinden und zu kritisieren. Medien tragen die große Verantwortung der Kritik- und Kontrollfunktion der Politik.
Anstatt die Botschaft der Letzten Generation zu verstehen und über das eigentliche Problem zu berichten, dreht es sich um die Protestform. Es wirkt fast, als würden sie sich dumm stellen, als wären die Protestierenden lediglich Idioten, die Ärger machen wollen. Dabei ist diese geringe Transferleistung von deutschen Medien doch eigentlich zu erwarten.
Es wird diskutiert, wie weit Protestaktionen noch geduldet werden sollen und welche Rechtsfolgen gesetzt werden sollen. Inwiefern Politiker:innen, die Gesetze und Abkommen nicht einhalten und wissenschaftliche Studien bei Entscheidungen nicht berücksichtigen, findet wenig Platz auf der medialen Bühne.
Über wen sollten wir uns mehr aufregen: Protestierende, die sich mit Recht und Rückenwind für eine gerechtere Welt einsetzen und in manchen Fällen Grenzen ausreizen oder Politiker:innen, die mit Unrecht die Freiheit und Lebensgrundlagen der kommenden Generationen rauben und Klimaziele nicht einhalten? Oder anders gefragt: wen sollten wir mehr feiern?