Wissenschaft
Forschungsreise ins Eis
Ein Beitrag von Anastassija Sheremet
Im Sommer 2022 waren die beiden Wissenschaftler:innen des Instituts für quantitative und theoretische Biologie an der HHU Dr. Ovidiu Popa und Ellen Oldenburg mit dem Forschungsschiff „Polarstern“ sechs Wochen lang im Nordpolarmeer unterwegs, um Eis- und Wasserproben zu sammeln. Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen des internationalen Großprojekts „MOSAIC“, während dessen verschiedene Daten über ein Jahr lang im arktischen Winter erhoben wurden. Die HHU-Forscher:innen nahmen das Leben im Eis und im Wasser unter die Lupe, um die Zusammensetzung und die Funktion der dortigen Lebensgemeinschaften zu verstehen. Das Verhalten und die Veränderung dieser unter bestimmten klimatischen, hydrografischen und ökologischen Einflüssen lässt Rückschlüsse darüber zu, welche Auswirkungen der Klimawandel auf dieses empfindliche Ökosystem hat und welche noch zu erwarten sind. Doch wie sieht diese Forschung eigentlich genau aus?
Das berichten Dr. Olvidiu Popa und Ellen Oldenbirg im Rahmen der Sommeraktion der Stabsstelle Presse und Kommunikation „Coole Sachen: Eiseskälte an der Düsseldorfer Uni“.
Der Arktische Ozean erfährt eine durch den Klimawandel bedingte Erwärmung, die rund viermal schneller erfolgt als die des globalen Durchschnitts. Prognosen zufolge soll die Arktis bis zum Jahr 2050 im Sommer eisfrei sein. Deshalb sind arktische Ökosysteme besonders empfindlich und auch besonders gut als Indikatoren der globalen Erderwärmung geeignet. Es ist leicht vorzustellen, dass - allein durch den logistischen Aufwand, eine lange Reise in ein extremes Umfeld wie dieses zu unternehmen - das Nordpolarmeer recht wenig erforscht ist. Und um so mehr wird die Bedeutung dieser Forschungsreise klar.
Wenn die Forscher:innen über die weißen Breiten der Eisfläche und die absolute Stille der kalten, auf den ersten Blick scheinbar lebensfeindlichen Umwelt berichten, ist man hier dennoch alles andere als allein: In der Arktis gibt es eine Menge Leben. Im Wasser und auch im Eis findet man eine Fülle und Vielfalt an Organismen, die genau auf diese Lebensbedingungen angepasst sind. Selbst ein Blick unter die Eisscholle bietet die Sicht auf grüne Algen. Das Eis ist von winzigen Kanälen durchzogen, welche Lebensraum für verschiedenste Mikroben bieten – und was eingefroren ist, ist noch lange nicht unbedingt tot.
Mikrobielle Gemeinschaften stellen als wichtiger Teil des Ökosystems und der Nahrungskette einen guten Anzeiger für die Auswirkungen des Klimawandels dar, vor allem auch wegen ihrer schnellen Anpassungsfähigkeit an diese. Dabei hängt die Zusammensetzung solcher Gruppen von verschiedenen Faktoren ab: So findet man im Eis eine andere als im Wasser. Auch Wasser ist nicht gleich Wasser - direkt unter der Eisscholle bildet sich eine Schicht Süßwasser, welches durch das Schmelzen des Eises zustande kommt und einen geringeren Salzgehalt hat, als das darunterliegende Meereswasser. Vor allem diese Schmelzschicht ist hier interessant: Wenn sie durch die Erwärmung und verstärkte Abschmelzung der Polkappen größer wird, wie verändert es die Dynamik und Vielfalt der Gemeinschaften?
Daraus ergeben sich weitere Forschungsfragen: Welche Faktoren bestimmen die Zusammensetzung solcher Gruppen? Welche Arten findet man? Was ist deren Funktion im Netzwerk und wie sieht der Energiefluss aus?
Mit der Beantwortung der Fragen lässt sich nicht nur der Verlauf des Klimawandels prognostizieren, sondern auch Maßnahmen entwickeln, dem entgegenzuwirken. Am Ende des Projekts soll der Wissenschaft ein umfassender Datensatz zur arktischen marinen Biodiversität bereitgestellt werden, wie er so noch nicht existiert hat.
Die Proben wurden in den Gewässern der Framstraße erhoben. Dieser Ort ist von besonderer Wichtigkeit, da hier zwei Ströme aufeinandertreffen: Der Westspitzbergenstrom (West Spitsbergen Current oder WSC), der atlantisches Wasser zum Norden hin und der Grönlandstrom (East Greenland Current oder EGC), der polares Wasser zum Süden transportiert. Dies ist insofern von Bedeutung, als das atlantische Wasser wärmer ist und auch andere Gemeinschaften mit sich bringt.
Abbildung: Karte mit den Orten der Probeentnahmen. Die Art des Stroms ist farbig markiert: Arktischer Grönlandstrom (EGC) in blau und Atlantischer Westspitzbergenstrom (WSC) in rot. Genauer Ort ist HG-IV im Westen des WCS und HG115 im WSC. Land wird grau dargestellt und die Tiefe mit verschiedenen Blautönen.
Wasser aus der Tiefe holen – so werden die Daten gesammelt
Zunächst erfolgt das Sammeln von zahlreichen Proben. Dies passiert auf unterschiedliche Weise. Mithilfe von metallischen Flaschen werden per Hand Wasserproben geholt, deren Inhalt an Bord gefiltert und durch chemische Mittel eingefroren und somit fixiert wird, um später zurück im HHU Labor untersucht zu werden. Auch sogenannte CTDs, Gestelle mit 24 Flaschen können in große Tiefen heruntergelassen werden, um Proben aufzunehmen.
Des Weiteren gibt es zur langzeitigen Kollektion das RAS (remote access sampler) System, welches über ein Jahr lang in große Tiefe gelassen wird. Dort wird durch ein Programm die Öffnung einzelner Flaschen zu verschiedenen Zeitpunkten maschinell gesteuert, um einen Datensatz über das ganze Jahr zu erstellen. Wasserparameter wie Salz- und Sauerstoffgehalt und Temperatur können mit den Geräten aufgenommen werden. (CTD steht zum Beispiel für conductivity, temperature und depth) Auch hier wird die Probe chemisch fixiert.
Bunte Punkte und Linien – ein Beispiel für die Visualisierung der Analyse
Zurück am Labor werden durch Sequenzierung des Metagenoms und Abgleich mit bestehenden Datensätzen wie die des „MOSAIC“ Projekts die Organismen bestimmt, die in den Proben unter bestimmten Bedingungen gefunden wurden. Zu verschiedenen Jahreszeiten und in verschiedenen hydrografischen Gebieten kommen einige Arten häufiger vor als andere: So tritt z.B. Phytoplankton – zur Photosynthese fähige Mikroalgen – vermehrt im Sommer auf. Auch der Metabolismus der Arten unterscheidet sich.
Am Ende entstehen sogenannte marine prokaryotische Netzwerke. Sie zeigen das Auftreten bestimmter Arten zur selben Zeit, was Aussagen über die Verbindung der Arten untereinander und deren ökologische Rollen zulässt.
Abbildung: Gezeigt sind zwei marine prokaryotische Netzwerke (a im East Greenland Current oder EGC, der Polarwasser zum Süden transportiert und b MIZ marginal ice zone, Mischzone). Jeder Punkt entspricht einem Mikroorganismus einer Probe aus den Tiefen des Ozeans. Verbunden werden die Punkte, wenn diese zur selben Zeit auftreten und über die gesamte Zeit der Messungen am gleichen Ort gefunden worden sind. Die Farbcodierung der Punkte verrät den Monat des Fundes. Durch die Zuordnung der warmen Farben zu den Sommermonaten und den kalten Farben zu den Wintermonaten ist eine deutliche Trennung zu beobachten. Man kann sehen, dass die Organismen des EGC, welches stark mit Eis bedeckt ist, einen weniger starken Jahreszyklus haben, also stabiler sind, als die des MIZ.
Erkenntnisse des Projekts und was sie bedeuten
Die Schnelligkeit des Abschmelzens der Polkappen ist unter anderem auf den gestiegenen Einfluss des atlantisches, wärmeren Wassers zurückzuführen. Dieser Prozess, genannt „Atlantifikation“, bringt Arten mit sich, die genau auf dieses Wasser angepasst sind und einen eigenen Metabolismus haben. Durch die Vermischung mit dem polaren Wasser, begegnen sich die Artengemeinschaften und es kommt zur Konkurrenz. Dabei sind zwei Szenarien möglich: Entweder kommt es zur Verdrängung oder zur Adaptation der Arten. Es wird prognostiziert, dass der Prozess der Verdrängung vermehrt auftreten wird – also das Arten andere Arten ablösen werden, die sensitiver gegenüber Veränderungen sind und eine engere ökologische Nische haben. Die neuen Daten helfen vorherzusagen, wie so ein Prozess ablaufen könnte und welche Folgen er hätte.
Analysen ergaben metabolische Unterschiede zwischen den Arten des atlantischen und polaren Wassers, wobei letztere ein höheres Potential haben, organische und anorganische Stoffe zu zersetzen. Mit der zunehmenden „Atlantifizierung“ mischen sich unter das stabile Mikrobiom des Polarmeeres auch saisonal schwankende Populationen. So kommt mit dem wärmeren Wasser auch das Phytoplankton als Primärproduzent, welches große Konsequenzen für den Pool organischer Substanz hat. Da Bakterien eine zentrale Rolle als Degradierer, also Zersetzer von Materie, spielen, wirkt sich die Veränderung der Gemeinschaft dieser maßgeblich auf den gesamten Kreislauf aus.
Auch das Meereseis selbst spielt eine zentrale Rolle in der Balance des Ökosystems: Mit der Schmelze wird zusätzliches organisches Material und Nährstoffe in Form der vorher eingefrorenen Organismen freigesetzt. Eine starke Schmelze führt zu einer stärkeren Stratifikation, einer Schichtung des Wassers, wobei die wärmere, weniger dichte Schicht abgegrenzt ist von der darunterliegenden kälteren und dichteren Schicht. Dieser Prozess führt dazu, dass organische Materie und somit auch Nährstoffe in der oberen Schicht gefangen werden und der Transport des Kohlenstoffs und der Nährstoffe in die Tiefe erschwert wird. Dies wirkt sich wiederum auf das gesamte Nahrungsnetz und die biogeochemischen Zyklen aus. Durch die Probenentnahme in der Tiefe konnten die Auswirkungen auf die dort unten lebenden Arten von den Forscher:innen beobachtet werden.
Dieses Projekt zeigt zum ersten Mal eine umfangreiche Analyse der Mischzone zweier Ströme und dokumentiert die Konsequenzen der „Atlantifizierung“ für die Vielfalt und die ökologischen Netzwerke der Arten. Des Weiteren zeigt die Studie die enge Bindung identifizierter Populationen an bestimmte geografische und saisonale Bedingungen auf. Das Verständnis über die Zusammensetzung der Artengemeinschaften und die Funktion einzelner Mitglieder lässt Vorhersagen darüber zu, wie sich das gesamte Ökosystem verändern wird, wenn ökologische Nischen und somit auch bestimmte Arten wegfallen, wenn die „Atlantifizierung“ so schnell voranschreitet wie jetzt.
Bilder und Infos:
Oldenburg, E., Popa, O., Wietz, M., Von Appen, W.-J., Torres-Valdes, S., Bienhold, C., Ebenhöh, O., & Metfies, K. (2023). Sea-ice melt determines seasonal phytoplankton dynamics and delimits the habitat of temperate Atlantic taxa as the Arctic Ocean atlantifies [Preprint]. Ecology. doi.org/10.1101/2023.05.04.539293
Priest, T., von Appen, W.-J., Oldenburg, E., Popa, O., Torres-Valdés, S., Bienhold, C., Metfies, K., Boulton, W., Mock, T., Fuchs, B. M., Amann, R., Boetius, A., & Wietz, M. (2023). Atlantic water influx and sea-ice cover drive taxonomic and functional shifts in Arctic marine bacterial communities. The ISME Journal, 1–14. doi.org/10.1038/s41396-023-01461-6